Der Elefant ist der Raum
Das Haus der Schweizer Familienpolitik, wie ist es gebaut, wer hat es erbaut – und nach welchen Bauplänen? Welche Familien gelten in diesem Gebäude als lebenswert – welche nicht? Wer darf, muss, soll und kann darin alt werden, wer Kinder haben und das Haus mit ihnen beleben – wer nicht? Und was hat das mit Migration zu tun?
1934 trat ein folgenreiches Gesetz in Kraft, das alle diese Modalitäten regelte, das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG). Die faktischen Spielregeln sind auf der Oberfläche rasch zusammengefasst: Aus ökonomischen Gründen wurden für eine strikt begrenzte Zeit Arbeitskräfte rekrutiert, sie sollten, schlecht bezahlt, die wachsende Infrastruktur des Landes aufbauen und pflegen – und sich nicht integrieren. Das ist die harte, aber nachvollziehbare Logik des Arbeitsmarktes. Wenn man jedoch den historischen Kontext dieses Gesetzes mitliest, blickt man in einen moralischen Abgrund. Das ANAG trägt eindeutig völkisch-eugenische Züge. Aus rassenhygienischen Gründen wurde die Familiengründung und Reproduktion der Migrant:innen in der Schweiz illegalisiert. Ihre Niederlassung war nur in Ausnahmefällen gestattet und in der Regel unerwünscht. Die als besonders fruchtbar und als minderwertig geltenden «Fremdarbeiter» sah man als Bedrohung des Schweizer Volkskörpers an. Durch ein Rotationsprinzip und die stigmatisierenden Statuten A (Saisonnier) und B (Jahresaufenthalter) wurden die Arbeiter:innen vom Rest der Gesellschaft segregiert und des fundamentalen Grundrechts beraubt, das Menschen ein Zusammenleben mit der Familie garantiert. Die Statuten A und B waren eine rigorose rassistische, antiintegrative, biopolitische Massnahme. Von 1934 bis 2002 wurde etwa eine halbe Million Familien aus dem gesamten Süden Europas durch die Gewalt dieser Statuten zum Teil schwer traumatisiert.
Die Folgen sind bis in die dritte Generation spürbar. Die jüngste zeitgeschichtliche Forschung von Paola De Martin und das in den Familien- und in den Körper-Archiven gespeicherte Wissen von Menschenrechtsaktivist:innen des Vereins TESORO, der die Interessen dieser Familien vertritt, zeigen: Wer strukturelle Gewalt gegen unerwünschte Familiengründungen in diesem und in anderen Kontexten in der Schweiz erlitten hat, spürt heute noch die bedrohlichen Geister der Geschichte, besonders beim Lesen bestimmter Texte und beim Betreten bestimmter Räume, auch Jahrzehnte nach der Abschaffung des Saisonnierstatuts im Jahr 2002. Die Vergangenheit dieser «häuslichen Gewalt», sie ist nicht vergangen. Aber sie ist auch nicht richtig greifbar. Wir befinden uns in einem Zustand kollektiver Amnesie.
2024 – neunzig Jahre nach Inkraftsetzung des ANAG – wird an der ETH Zürich der Impuls aus der Ereignisgeschichte aufgenommen, der Impuls für eine schrittweise Auflösung der kollektiven Amnesie. Wir möchten mit dem Symposium DER ELEFANT IST DER RAUM und der gleichnamigen Ausstellung – erstmals in der Geschichte des Landes – Bedingungen schaffen, damit wir uns mit Strukturen auseinandersetzen, die so tief in den unreflektierten Dispositionen der Schweiz verankert sind, dass wir ihre Bedeutung für die Gegenwart nur gemeinsam erfassen können. Es braucht eine mutige Kooperation, über die sicheren Grenzen unserer Komfortzonen hinaus, wenn wir verstehen wollen, welche historischen und ästhetischen Dimensionen die asoziale Architektur einer solchen Familienpolitik hat und für wen sie immer noch mit viel Leid verbunden ist. DER ELEFANT IST DER RAUM lädt Forscher:innen aus diversen Teildisziplinen, Menschenrechtsaktivist:innen und Interessierte aus der Zivilgesellschaft ein, sich gemeinsam diesen Fragen zu stellen:
Wie lassen sich die verdrängten Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen Migrationsregime, Eugenik und Architektur in der Schweiz aufspüren?
Wie manifestieren sich in unseren Beziehungen die latenten Strukturen der Ungleichheit, die in unseren Einwanderungsgesetzen, Genossenschaftsstatuten, Bildungsreglementen und Architekturdogmen gespeichert sind?
Wie speichern wiederum Grenzsanitätsgebäude, Barackensiedlungen, Junggesellenhäuser, Gartenstädte, Schulhäuser, psychiatrische Anstalten, Museen, Bahnhöfe, Theater, Universitäten und Spitäler diese besondere Form der strukturellen Diskriminierung und Privilegierung?
Was geschieht mit den Erinnerungen, wenn Gebäude verschwinden, in denen sich diese Gewalt manifestierte?
Wie können wir ihr Potential, uns zu triggern, durch Forschung entschärfen?
Wie ist das überhaupt möglich, wenn die Forschung selbst, ihre Sprache und ihre Institutionen mitsamt ihren Mauern und Dächern Teil der strukturellen Gewalt gegen migrantische Familien sind?
Die Ausstellung und das Symposium wurden realisiert von Paola De Martin in Zusammenarbeit mit Melinda Nadj Abonji, Lucia Bernini, dem Verein TESORO, der Professur für Kunst- und Architekturgeschichte (Prof. Dr. Philip Ursprung) und gta Ausstellungen. Mit freundlicher Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds SNF und der Fachstelle für Rassismusbekämpfung FRB.
Eröffnung: 4.10.2024, 18:30 Uhr